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Hans Melderis: Raum-Zeit-Mythos – Richard Wagner und die modernen Naturwissenschaften (ISBN: 3-434-50487-7)


Wagner und moderne Physik – Parallelen dieser auf den ersten Blick vermeintlichen Gegensätze fallen normalerweise jedem Naturwissenschaftler auf, der sich auch intensiv mit Wagners Werk beschäftigt. Umso überraschender ist es, dass bisher keine ausführliche Publikation zu diesem Thema erschienen ist und der Mediziner Hans Melderis – als „Nichtphysiker” sozusagen – mit seiner umfassenden Darstellung erstmals ein lesenswertes, kompaktes Werk dazu abliefert. „So lange übersehen” (S.70) wurde aber die Verknüpfung von Naturwissenschaft und Kunst keineswegs: Kurt Overhoff hat z.B. schon in seinem Buch Richard Wagners germanisch-christlicher Mythos (1955) kurz die Parallele von Quantenphysik und Aufhebung der Kausalität in der Wanderer-Siegfried-Szene aufgegriffen. Des Weiteren hat J.-E. Berendt 1983 in Nada Brahma die Entsprechungen bzw. die Einheit von Musik, moderner Physik, Medizin, Philosophie und anderen Geisteswissenschaften ganz allgemein aufgezeigt, so dass die spezielle Betrachtung in Bezug auf Wagner nicht so sehr verwundert, wie es der Autor bisweilen darstellt.

Melderis’ tief reichende Kenntnisse auf allen Gebieten und seine Belesenheit verdienen große Bewunderung. Leider fehlt es aber des Öfteren an der gerade für dieses Buch so wichtigen naturwissenschaftlichen Klarheit. Der Autor schweift nicht selten von der eigentlichen Kernaussage ab, indem er zu viele (wennauch interessante) Zitate einbindet. Fatal ist dies bei der Erklärung von naturwissenschaftlichen Zusammenhängen, die den Laien somit noch mehr von der ohnehin schon komplizierten Materie abschrecken. Die kurzen, teilweise über mehrere Kapitel verstreuten Wiederholungen von bereits detailliert besprochenen Sachverhalten tragen auch nicht gerade zum besseren Verständnis bei. Sie ähneln darin mathematisch eindeutig bewiesenen Behauptungen, denen weitere richtige, aber überflüssige Beweise folgen. Wenn sie der Autor trotz alledem nicht weglassen möchte, sollte er ihnen ein eigenes Kapitel widmen. Eine Straffung des Buches wäre dringend anzuraten, damit die dem Buch innewohnende Qualität deutlicher zum Vorschein kommt. Wozu der Autor z.B. das in diesem Zusammenhang völlig überflüssige Kapitel „Mythos und Odem in der Musik” einführen musste, ist schwer nachvollziehbar. Der Gegenstand des gesamten „Ersten Teils”, nämlich die Einheit von Geistes- und Naturwissenschaften, ist ebenfalls schon ausführlich in dem oben genannten Buch von Berendt dargestellt worden und bedarf eigentlich keiner weiteren Untersuchung. Erstaunlich ist hierbei aber, dass Melderis an dieser Stelle Wagners Entwurf zu „Die Sieger” überhaupt nicht in seine Betrachtungen aufnimmt, obwohl er laufend jenes Wagner-Zitat vom „Auseinanderliegen von Raum und Zeit” aus dem Brief an Mathilde Wesendonck anführt, das sich auf Wagners leider unvollendetes Werk bezieht.

Trotz Melderis’ meist richtiger Aussagen und Folgerungen haben sich in seinem Buch auch einige definitive Fehler eingeschlichen. So wurde die Schreibweise „Parsifal” von Wagner nicht aufgrund besserer Singbarkeit (S.90), sondern aufgrund Görres’ (falscher) Etymologie vom „reinen Toren” gewählt. Des Weiteren lautet der Text vor dem erstmaligen Erklingen des Schwertmotivs in der Partitur „vor ihrem Neid” und nicht „vor ihrem Graun” (S.99). Ebenso ist die Behauptung, dass jedes Teilchen zugleich auch Welle ist (S.202), zu wenig exakt. Man kann zwar Teilchen, wie z.B. Elektronen oder Protonen, mathematisch mit einer Wellenfunktion „beschreiben”, dies aber auch nur unter quantenmechanischen Bedingungen (Unbestimmtheit des Ortes aufgrund des (elektronen)mikroskopischen Bereichs, sehr hohe Geschwindigkeiten). Diesen Teilchen wird nur ein Wellencharakter zugewiesen. Sie sind demnach keine Wellen, sondern bleiben nach wie vor das, was sie aufgrund ihrer Masse sind, nämlich Teilchen. Der Teilchen-Welle-Dualismus taucht nur beim Licht auf, da seine „Art” – weil Photonen (Lichtquanten) eben keine Masse besitzen – nicht eindeutig bestimmt werden kann.

Melderis beruft sich auf Einstein, wenn er anmerkt, „dass es keine Signale mit Überlichtgeschwindigkeit geben darf” (S.196), „dass die Lichtgeschwindigkeit in allen Systemen immer gleich ist” (S.197) und „sich kein Körper schneller als mit Lichtgeschwindigkeit durch den Raum bewegen kann” (S.155). Hier müsste er sich genauer ausdrücken: Als Lichtgeschwindigkeit im landläufigen Sinne bezeichnet man c=299.792 km/s (im Vakuum). Einstein war der Ansicht, dass die Phasengeschwindigkeit eines Teilchens den Wert von c nicht überschreiten kann. Mittlerweile hat man Teilchen (z.B. Tachyonen) entdeckt, die sich zusammen durchaus schneller als mit 299.792 km/s fortbewegen können (Gruppengeschwindigkeit). Solche Teilchen, die man z.B. in einem schwarzen Loch oder in einem Teilchenbeschleuniger vorfindet, können ihrerseits wiederum eine Strahlung, das so genannte Cerenkov-Licht aussenden, welches ebenfalls fast c erreichen kann. Eine Phasengeschwindigkeit größer als c wurde noch nicht nachgewiesen, obwohl einige Gründe dafür sprechen, dass sie innerhalb eines schwarzen Loches existiert. Hier finden jedoch die Gesetze unserer Physik keine Anwendung mehr. Melderis sollte also entweder von der Phasenlichtgeschwindigkeit sprechen oder seine Aussage so präzisieren, dass ein Teilchen nie schneller als c werden kann. Der Vergleich von Isoldes Weltatem mit einem gekrümmten Lichtstrahl, „der auf einer geodätischen Linie den gesamten Kosmos durcheilt” (S.56), erscheint übertrieben. Bei einer derartigen Argumentation könnte der „Weltatem” beispielsweise genauso gut als Beweis (womöglich noch aufgrund einer etwaigen etymologischen Verwandtschaft) für den bereits ad absurdum geführten Äther angeführt werden.

Sehr gut hat Melderis im zweiten Kapitel die Parallelen von musikalischer Harmoniebrechung und kernphysikalischer Symmetriebrechung im Weltschöpfungsprozess anhand des Rheingold-Vorspiels herausgearbeitet. Großartig ist auch seine Darstellung vom Rhein als „Fluss der Zeit” (S.94). Dass die Kausalität, das Prinzip von Ursache und Wirkung, sowohl in Wagners Ring (z.B. Siegfried/Wanderer-Szene; vgl. Overhoff) als auch in der Physik (Singularität/schwarzes Loch) durchbrochen wird, ist vom Autor zu Recht in seine Betrachtungen aufgenommen und korrekt dargestellt worden. An dieser Stelle sollte noch erwähnt werden, dass der Zweifel an Raum, Zeit und Kausalität, den Schopenhauer in seinen Werken anspricht, nicht nur von Wagner aufgegriffen wurde. Aus Einsteins Briefen geht hervor, dass er selbst viel Schopenhauer las. Inwieweit hier Anstöße zu seinen bahnbrechenden Schlussfolgerungen gegeben wurden, müsste aber an anderer Stelle genauer erforscht werden. Melderis beweist vollkommen richtig die „enharmonische Verwechslung von Schöpfung und Urknall” (S.101). Dass das Ende der Götterdämmerung sozusagen das Maximum an Entropie, also der „Unordnung” im landläufigen Sinne, darstellt und von Hause aus vorprogrammiert ist, stellt ebenso eine herausragende Entdeckung des Autors dar. Letzterer vergleicht den Tarnhelm quantenmechanisch mit einer unsichtbaren Intensität im Interferenzmuster (S.109). Warum er dieses für Laien komplizierte Beispiel anstatt des einfacher erklärbaren und in diesem Zusammenhang suggestiveren „Tunneleffekts” wählt, ist etwas verwunderlich.

Dass die Fermate am Ende der Götterdämmerung das Ungewisse des Weltausgangs symbolisieren soll (S.119), ist eine zu triviale Interpretation, da am Schluss der meisten Musikstücke Fermaten vorzufinden sind. Melderis beschreibt den Ringschluss im Sinne Schopenhauers: „Machtverzicht, Kontemplation, Selbstopfer und Liebe.” (S.121) Hier irrt Melderis aber, da Letztere in Schopenhauers Werken keineswegs als eine Art „Leitbild” angesehen wird. Im Gegenteil. In der „Metaphysik der Geschlechtsliebe” wird sie eher als unvernünftige, menschliche Schwäche dargestellt. Gerade dagegen wehrt sich Wagner in seinem Brief an Mathilde Wesendonck, wenn er schreibt, dass es sich darum handelt, „den von keinem Philosophen, namentlich auch von Sch. nicht, erkannten Heilsweg (...) durch die Liebe (...) aus dem Grunde der Geschlechtsliebe (...) nachzuweisen.” Melderis' Erklärung des „Welten Ringes” (S.126) mit der geodätischen Spirale der Relativitätstheorie, der zyklischen Wiederkehr des Universums ist durchaus treffend. In diesem Zusammenhang führt der Autor auch folgerichtig Sieglindes Liebeserlösungsmotiv am Schluss der Götterdämmerung an, das auf die Geburt eines neuen Universums hinweist. Die Behauptung, dass Wotan mit Siegfried „die Welt durch Vertrag und Gewalt, aber ohne Liebe” (S.128) retten wollte, ist jedoch – schon aufgrund der Musik – absurd und steht im Widerspruch zu obigem Zitat auf S.121.

Der dritte Teil des Buches widmet sich dem Raum-Zeit-Thema im Parsifal. Die Seiten 138-146 enthalten hierbei interessante Nebeninformationen – v.a. über Wagner und seine Beschäftigung mit Darwins Evolutionstheorie und dem Energieerhaltungssatz –, haben aber mit dem Bühnenweihfestspiel an sich wenig zu tun. Vielleicht sollte dafür in Zukunft ein eigenes Kapitel vorgesehen werden. Die Aufhebung von Raum und Zeit während der Verwandlungsmusik wird von Melderis naturwissenschaftlich völlig korrekt erläutert. Man könnte diese Stelle auch noch mit dem physikalischen Phänomen des „Wurmloches” erklären. Der Verweis auf literarische Vorbilder wie Goethe und Shakespeare, die ebenfalls versucht haben, Raum und Zeit in ihren Werken zu überwinden, ist vom Autor sehr gut gewählt. Helena und Faust im Faust II entsprechen demnach Kundry und Parsifal, also Antike und Mittelalter (S.149). Absolut zutreffend ist auch Melderis’ Aussage, nach der „das Bühnenweihfestspiel der Versuch der Aufhebung des Fluches einer ‚furchtbaren Tragik des Lebens im Auseinanderliegen von Raum und Zeit’ durch das Mitleid und eben auch einer Aufhebung der Trennung durch Raum und Zeit oder von Raum und Zeit” (S.151) sei.

Die Behauptung, dass Kundrys Antwort auf die Frage nach der Herkunft des Balsams „von weiter her, als du denken kannst” auf einen „imaginierten Raum” hinweist (S.158), ist jedoch falsch. Das beweist Kundry noch im selben Satz: „Hilft der Balsam nicht, Arabia birgt dann nichts mehr zu seinem Heil”. „Bei Schopenhauer findet sich der Ursprung von Wagners Bewusstsein über ‚dieses verfluchte Thema’ ” (S.158). Man sollte vielleicht noch um der Vollständigkeit willen hinzufügen: Und in den Upanishaden findet sich der Ursprung von Schopenhauers Bewusstsein. Melderis’ Hinweis auf die Entsprechung von Einsteins „Inertialraum” und dem Gralsraum ist verblüffend. Mit bewundernswerter Eleganz spannt Melderis hier auch den Bogen zu Goethes Homunculus im Faust II (S.162). Melderis’ Ausführungen zur Entstehung der imaginären Zahlen sind in diesem Zusammenhang aber überflüssig und für Laien verwirrend. Um ein Bindeglied zwischen imaginärer Zahl und imaginärer Zeit zu finden, hätte sich der Autor auch eines anschaulicheren Beispiels, vorzugsweise aus der Elektrotechnik, bedienen sollen. Am Ende des Kapitels vergleicht Melderis die Klingsorwelt mit einem nicht euklidischen, vierdimensionalen Raum und die Gralswelt mit einem euklidischen, dreidimensionalen Raum (S.170). Diese herausragende Entdeckung des Autors erleichtert an einigen Stellen des Parsifal das Werkverständnis ungemein. 

Im vierten Teil vergleicht Melderis – meist unabhängig von Wagner – Ästhetik und Geschichtlichkeit in den Natur- und Geisteswissenschaften. Dieser Teil bildet einen im wahrsten Sinne des Wortes schönen und informativen Abschluss, der jedoch bisweilen zu ausführliche Schilderungen enthält (u.a. vier Seiten über die Hintergründe des kopernikanischen Weltbilds). Die Betonung Einsteins ästhetischer Erwägungen für seine Relativitätstheorie ist in diesem Zusammenhange sehr wichtig, darf aber nicht auf die gesamten „modernen Naturwissenschaften” bezogen werden. An vielen Stellen im Buch, besonders aber hier, trennt Melderis nicht scharf genug zwischen Relativitätstheorie und Quantenmechanik. Ein Laie könnte nach dieser Lektüre beinahe auf die Idee kommen, dass Einstein ein Verfechter der Quantenmechanik war, was nicht der Wahrheit entspricht. Natürlich war er – aufgrund späterer Folgerungen aus seiner Relativitätstheorie – ungewollt ihr „Begründer”. Die Relativitätstheorie besticht aber durch Ästhetik, was man von der Quantenmechanik nicht behaupten kann. Hier sei nur auf die Schrödinger-Gleichung und das Orbitalmodell (man vergleiche damit das ästhetische Bohr-Modell!) verwiesen. An dieser Stelle wird auch der wehmütige Ausspruch von Lorentz zitiert, „als wir noch so in kindlicher Unschuld (ohne von Quanten zu wissen) lebten, die Physik so schön war.” (S.180) Die in den letzten Jahrzehnten stärker zu beobachtende Suche nach einer einfachen und schönen Weltformel, die die Quantenmechanik und die Relativitätstheorie verbinden soll (vgl. Hawking), könnte aber einmal diesen Schönheits- und Wahrheitskonflikt lösen und somit als eine „Suche nach der heiligen Ästhetik” betitelt werden. Nur allzu treffend ist daher die Aussage des Autors am Schluss des Kapitels, „dass die hervorstechendste Leistung der Naturwissenschaft des 20. Jahrhunderts nicht die Relativitätstheorie (…), nicht die Quantentheorie” sei, sondern „die allgemeine Erkenntnis, dass wir noch nicht in Berührung mit der letzten Wirklichkeit sind” (S.203).

Zusammenfassend ist also anzumerken, dass dieses unkonventionelle und v.a. für naturwissenschaftliche Laien äußerst informative Buch trotz oben erläuterter Kritikpunkte sehr zu empfehlen ist und eine wichtige Bereicherung für die musik- und naturwissenschaftliche Forschung darstellt. Eine Überarbeitung des Buches (u.a. mit Bezug zu den „Siegern”) einerseits und eine Straffung desselben andererseits wäre jedoch für kommende Auflagen wünschenswert.

© 2002 Frank Fojtik

Frank Fojtik | info@frankfojtik.com