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Die Tulpe und die Nachtigall 
(Eine Parabel für Kinder und Erwachsene)


An einem wunderschönen Abend im Frühling sagte die Tulpe zur Nachtigall: „Ich würde so gern in den Ästen des Baumes da drüben wohnen. Die Aussicht von dort oben muss herrlich sein. Und ich könnte dann sicher auch die Berge, die Wälder und die Gärten überblicken. In ihnen spielen und singen die Musikanten jeden Abend so schöne Lieder und ich würde zu gerne wissen, wie diese Menschen aussehen.” Die Nachtigall sagte: „Du hast recht. Es ist wundervoll, diese Dinge zu sehen und für mich ist es einer der schönsten Momente im Leben, auf dem Baum zu sitzen, mein Lied zu singen und in die Landschaft vor mir zu blicken. Aber für Dich ist das unmöglich. Wenn Dich nämlich jemand auf den Baum bringen würde, wärst Du nicht mehr mit der Erde verbunden und müsstest bereits innerhalb eines Tages sterben!” Die Tulpe sagte: „Das würde mir nichts ausmachen, wenn ich dafür nur einmal in meinem Leben diese Aussicht genießen könnte!” Die Nachtigall wurde sehr nachdenklich und sagte schließlich zur Tulpe: „Wenn Du wirklich eine so große Sehnsucht nach dem Baum hast, kann ich Dich gleich morgen früh dort hinbringen.” Die Tulpe war einverstanden.

Als der Morgen graute, durchtrennte die Nachtigall mit ihrem Schnabel sanft den Stiel der Tulpe, woraufhin die Tulpe in eine tiefe Ohnmacht fiel. Vorsichtig nahm die Nachtigall die Tulpe in den Schnabel und flog mit ihr zur Baumkrone hinauf – genau zu der Stelle, die sich die Tulpe ausgesucht hatte. Beim Wiedererwachen spürte die Tulpe noch immer den tiefen Schmerz, den ihr die Nachtigall bei der Trennung von der Erde zugefügt hatte. Aber als die Tulpe die Augen öffnete und vor sich plötzlich die Frühlingslandschaft mit der aufgehenden Sonne sah, war all ihr Schmerz vergessen. Sie war überglücklich und bedankte sich bei der Nachtigall. Der Ausblick war schöner, als es sich die Tulpe je erträumt hatte. Sie sah das Morgenrot, die Berge, die grünen Wälder, die Gärten mit den noch schlafenden Musikanten und auch das Blumenbeet, in dem sie mit den anderen Tulpen aufgewachsen war. Die Nachtigall sagte: „Vergiss nicht, liebe Tulpe, dass Du jetzt viel früher sterben wirst als Deine Spielkameradinnen dort unten und Dir nur noch der heutige Tag zum Leben bleibt.” Die Tulpe antwortete: „Ich habe es nicht vergessen. Und ich sage Dir, dass schon dieser Moment, den ich jetzt erlebe, das Opfer wert war.”

Der Tag verging und am späten Nachmittag merkte die Nachtigall, wie der Atem der Tulpe allmählich immer langsamer wurde und die Lebenskräfte nach und nach aus ihr verschwanden. Die Nachtigall war gerührt von diesem Anblick. „Ich habe eine Idee!”, sagte die Nachtigall. „Vielleicht musst Du gar nicht sterben. Wenn Du Dich mit Deinen letzten Kräften ganz fest an den Baum klammerst und der Baum Dich gleichzeitig mit seinen Zweigen fest an sich drückt, verbindest Du Dich vielleicht mit dem Baum und wirst ein Teil von ihm!” Die Tulpe war schon sehr schwach. Sie hatte aber jedes Wort der Nachtigall gehört und war mit dem Vorschlag einverstanden. Hinter den Bergen verschwand bereits die Sonne und das leuchtende Abendrot tauchte den Baum in ein seltsames, unwirkliches Licht. Ein schönes, aber trauriges Lied war von der Nachtigall zu vernehmen, das sie eigens für die Tulpe komponiert hatte. Der Baum bot nun seine ganzen Kräfte auf und auch die Tulpe versuchte mit aller Anstrengung, sich fest an den Baum zu drücken. Nach einiger Zeit flossen der Nachtigall während ihres Gesanges Tränen aus den Augen, weil sie merkte, dass sowohl den Baum als auch die Tulpe die Kräfte verließen. Doch gerade in dem Moment, als Baum und Tulpe vor Erschöpfung zusammenzusinken drohten, bemerkte die Tulpe ein eigenartiges Gefühl in ihren Adern. Sie spürte, wie sie nach und nach erstarrte, aber gleichzeitig immer stärker und lebendiger wurde. Die Lebensgeister des Baumes waren in sie hinübergeflossen und sie war nun – ein Teil des Baumes. Ganz aus Holz – wie er. Der Baum und die Tulpe konnten ihr Glück kaum fassen und auch die Nachtigall stimmte einen lauten Jubelgesang an. Und so kam es, dass diese außergewöhnliche Tulpe noch viele Jahre und Jahrzehnte glücklich lebte, während die anderen Tulpen, mit denen sie aufgewachsen war, schon längst verblüht waren.

© 2016 Frank Fojtik

 

 

The tulip and the nightingale
(A parable for children and adults)


During a wonderful evening in spring the tulip said to the nightingale: “I would be so happy to live in the branches of the tree over there. The perspective from high above must be glorious. And surely I would also have a view unto the mountains, the forests and the gardens then. Every evening the musicians play nice songs there and it would be incredibly pleasing to know how those human beings look like.” The nightingale said: “You are right. It is wonderful to see those things and for me it is one of the greatest moments in my life to sit in the tree, sing my song and look at the landscape before me. But for you that is impossible. If someone took you to the tree you would not be connected to the ground anymore and you would have to die within one day already!” The tulip said: “That would not really matter to me, if only I could enjoy this vision once in my life!” The nightingale became very thoughtful and finally said to the tulip: “If you really have such a great longing for the tree I can take you there tomorrow morning already.” The tulip agreed.

At daybreak the nightingale softly cut the stem of the tulip with her beak whereupon the tulip fell into a deep unconsciousness. Carefully the nightingale picked up the tulip and flew with her to the crown of the tree – exactly to the place which the tulip had chosen. At her reawakening the tulip still felt the strong pain that the nightingale had inflicted upon her during the separation from the ground. But when the tulip opened her eyes and suddenly saw the spring landscape with the rising sun, all her pain was forgotten. She was overjoyed and thanked the nightingale. The view was more beautiful than the tulip had ever dreamed of. She saw the dawn, the mountains, the green forests, the gardens with the still sleeping musicians and also the flowerbed in which she had grown up with the other tulips. The nightingale said: “Do not forget, dear tulip, that you will die much earlier now than your playfellows down there and that only this day remains you for living.” The tulip answered: “I did not forget it. And I say to you that even the moment I experience now has been worth the sacrifice.”

The day passed by and in the late afternoon the nightingale realized how the tulip's breath gradually slowed down and how the vital forces vanished from her little by little. The nightingale was moved by this sight. “I have an idea!” said the nightingale. “Perhaps you do not have to die at all. If you leech on to the tree with the last of your strength very tightly and if at the same time the tree snuggles you with his twigs intensively, perhaps you will unify with the tree and will become a part of him!” The tulip was already very weak. But she heard every single word of the nightingale and agreed to the suggestion. Behind the mountains the sun began to fade and the luminous afterglow bathed the tree in a strange, unreal light. A beautiful, but sad song by the nightingale was heard which she composed especially for the tulip. Now the tree mobilized all his forces and also the tulip tried to make every endeavor to press herself tightly against the tree. After a while tears poured out of the nightingale's eyes during her singing because she realized that both the tree and the tulip were fading. But exactly in the moment in which tree and tulip were close to collapse from exhaustion the tulip noticed a strange feeling in her veins. She felt how she more and more solidified, but became stronger and livelier at the same time. The vital spirits of the tree had flowed into her and she was now – a part of the tree. Entirely of wood – like he. The tree and the tulip could hardly believe their fortune and also the nightingale intoned a loud song of joy. And so it happened that this extraordinary tulip still lived happily for many years and decades whereas the other tulips she had grown up with had already faded long ago.

© 2016 Frank Fojtik

 

 

 

Frank Fojtik | info@frankfojtik.com